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Nachruf: Prof. Dr. Lothar Baar (1932 – 2023)

Die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Humboldt Universität zu Berlin trauert um Prof. Dr. Lothar Baar, der am 25. November 2023 im Alter von 91 Jahren verstorben ist.


Lothar Baar, geboren am 27. September 1932 in Romnitz (heute Rąbienice) bei Jauer in Schlesien, war seit 1987 bis zu seinem Ruhestand 1997 Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Humboldt-Universität. Dieser Umstand ist bemerkenswert, denn nach dem Ende der DDR und Auflösung der Fakultät 1991 war er einer der wenigen Professoren, der sich gegen starke Konkurrenz aus Westdeutschland behaupten konnte. Bei der Neugründung der Fakultät wurde er 1992 von der Berufungskommission einstimmig zur Wiederberufung vorgeschlagen. Er verband wissenschaftliche Akribie mit Menschlichkeit und einer unideologischen Haltung, und prägte dadurch sein Fach und die Wirtschaftsgeschichte über Berlin hinaus.  

Lothars Baars Weg in die Wissenschaft war keineswegs vorgezeichnet. Er entstammte einer Bauernfamilie. Nach der Flucht 1946 verlor er seine Mutter, kurz darauf auch den Vater und kam 1948 als Vollwaise in das Internat der Oberschule in Bischofswerda. Nach dem Abitur 1951 begann er ein Studium der Wirtschaftswissenschaften, mit einer Fachausbildung in Wirtschaftsgeschichte. Er belegte historische, statistische und pädagogische Vorlesungen an der Humboldt Universität ebenso wie an der Hochschule für Ökonomie (HfÖ) in Karlshorst. Dort blieb er nach seinem Abschluss als Diplomwirtschaftler 1955 als wissenschaftlicher Mitarbeiter von Hans Mottek. 1961 wurde er mit einer Dissertation zur Berliner Industrie in der industriellen Revolution zum Dr. rer. oec. promoviert. Nachdem er 1967 den Grad eines Dr. rer. oec. habil. erworben hatte erhielt er 1969 einen Lehrstuhl für Ökonomik und Wirtschaftsgeschichte Nordeuropas an der Universität Greifswald. 1971 kehrte er an die HfÖ zurück und hatte dort bis 1986 den Lehrstuhl seines Lehrers Hans Mottek inne, bevor er an die Humboldt Universität wechselte.

Als Wirtschaftshistoriker in der DDR erlangte er durch „große Sachlichkeit und akribische Quellenkenntnisse“ (Rainer Karlsch) internationale Anerkennung, und wahrte sich zugleich Distanz zur politischen Führung. Vor allem seine Arbeit zur Industrialisierung Berlins, die 1966 im Akademie Verlag veröffentlicht und unter anderem von Herbert Kisch (Michigan) im Journal of Economic History positiv besprochen wurde, etablierte seinen Ruf. Daneben setzte er sich schon früh kritisch mit der Frage nach Investitionen und Zyklen in der DDR-Planwirtschaft auseinander, wofür er 1983 den (geteilten) Rene Kuczynski Preis des Jahrbuchs für Wirtschaftsgeschichte erhielt. Nach dem Mauerfall entfaltete er umfangreiche Aktivitäten, in enger und produktiver Zusammenarbeit mit seinem Fachkollegen Wolfram Fischer, Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Freien Universität Berlin. Im Juni 1990 wurde er von der Vollversammlung der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät in das Amt des Dekans gewählt, nach seiner Wiederberufung 1992 wurde er 1993 erneut zum Dekan, diesmal der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät gewählt. Im Auftrag der Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur“ leitete er die Forschungen von Werner Matschke und Rainer Karlsch zu einer Neubewertung der Frage nach „Zerstörungen, Demontagen und Reparationen“ der SBZ/ DDR nach 1945. Gemeinsam mit Dietmar Petzina (Bochum), Wolfgang Mühlfriedel (Jena) und Wolfram Fischer (FU Berlin) leitete er fünf Jahre ein Schwerpunktprogramm der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu regionalen Strukturveränderungen und Innovationsprozessen im deutsch-deutschen Vergleich für die Zeit 1945-1990, woraus mehrere Dissertationen und zahlreiche Publikationen hervorgingen. Darüber hinaus positionierte er als Herausgeber das Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte neu als gesamtdeutsche Fachzeitschrift, die bis heute Bestand hat und engagierte sich hochschulpolitisch in vielfältiger Weise. Baar vertrat die Professorenschaft im Konzil der Universität und war im Deutschen Hochschulverband, in der Berliner Wissenschaftlichen Gesellschaft und seit 1996 als Mitglied der Historischen Kommission zu Berlin aktiv. Zum Ende des Sommersemesters 1997 ging Lothar Baar in den Ruhestand.

Neben seiner Forschung leistete Lothar Baar auch für die Lehre Wichtiges. So wirkte er darauf hin, dass eine Tradition der DDR Bestand hatte: auch an der neugegründeten Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät von 1992/93 blieb die Wirtschaftsgeschichte ein Pflichtfach im Grundstudium für Studierende der Betriebs- und der Volkswirtschaftslehre, was bis heute Bestand hat. Gerade in Zeiten von Umbrüchen und Krisen hat sich das bewährt. Die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Humboldt Universität wird Lothar Baar in dankbarer Erinnerung behalten.   

Nachruf von Nikolaus Wolf, Professur für Wirtschaftsgeschichte
im Namen der Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, Humboldt Universität zu Berlin


Berlin, 10. Dezember 2023 (mit Dank an Wolfram Fischer, Rainer Karlsch, Uwe Müller und Frank Zschaler).