Humboldt-Universität zu Berlin - Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät

Bericht von Martin Bellach, 2004

Im Gegensatz zu allen bisherigen Teilnehmern am Doppeldiplomprogramm hatte ich bei meiner Abreise aus Berlin lediglich ein Mathe-Vordiplom mit Nebenfach Volkswirtschaftslehre in der Tasche. Ich war aus Berlin nur HU-Mathe-Studentenalltag gewöhnt - das heisst viel Selbständigkeit, sehr anspruchvolle Vorlesungen, geringe Studentenzahl, recht persönliches Verhältnis zu den Lehrenden und viel, viel Arbeit. An der ENSAE ist oberflächlich gesehen vieles ähnlich: kleine Gruppen, schwierige Kurse, viel Arbeit. Genauer betrachtet ist aber alles anders:

Die ENSAE ist unvorstellbar verschult. Ich kam mir zuweilen vor wie am Gymnasium 7. Klasse: Unterricht in einer Art Klassenraum, strenge Anwesenheitsauflagen für Sprachkurse und Übungen, undurchsichtiges, autoritäres, mitunter willkürliches Verhalten der Administration. Klausuren und Ferien sind gleichmässig über das gesamte Schuljahr verteilt, es gibt einen recht festen Stundenplan, fest eingeplante Freiräume für Sportkurse. All das ist natürlich zum Teil typisch Grande Ecole und Frankreich: Ein französischer Kommilitone hat mir erzählt, das müsse einfach so sein, um das mediterrane Temperament der Franzosen zu bändigen: Nur wenn sie ständig an der kurzen Leine geführt werden, arbeiten sie ordentlich. Ich persönlich habe diesen Aspekt der ENSAE als unangenehm und vor allem unnötig empfunden. Dass die meisten der Schüler noch sehr jung sind (Eingangsalter ENSAE: 19, 20 Jahre) und aus ihren lycées und classes préparatoires nur dieses System kennen, ist kein Grund, ihnen nicht mehr Freiheit zu gewähren. Ich habe das Universitäts-Flair sehr vermisst an der ENSAE. Dieser Absatz soll euch nur vorwarnen, keinesfalls abschrecken. Viele der Deutschen ENSAE-Studenten sehen diesen Aspekt nicht so negativ wie ich. Ausserdem ist die ENSAE dafür viel weniger anonym und bietet gerade für Austauch-Studenten sehr gute Möglichkeiten, schnell Anschluss an Franzosen zu finden (was in Paris oft sehr schwierig ist), einige von ihnen durch die engen Kontakte über zwei Jahre hinweg wirklich näher kennen zu lernen, sogar sehr gute Freunde zu finden. Weiteres Plus: Ihr habt die Möglichkeit, sehr gut die französische Sprache und französischen Stil zu erlernen. Die ENSAE bietet einen guten Französisch-Unterricht für Fremdsprachler, verlangt viele schriftliche Arbeiten und mündliche Präsentationen von ihren Schülern, und vor allem: Sie behandelt die Ausländer nicht besser und nicht schlechter und nicht anders als die Franzosen. Das mag abschreckend klingen, ist aber in Wahrheit sehr, sehr gut. Ihr wollt ja vielleicht nach Frankreich, um ein Land und ein Bildungssystem mit seinen Vor- und Nachteilen kennen zu lernen, und nicht nur, um Erasmus-Partys unter Deutschen und Italienern zu feiern!


Man merkt an der ENSAE sehr schnell, dass in Frankreich nur deshalb so entsetzlich viele Regeln aufgestellt werden, weil sich ja sowieso keiner dran hält! Bestes Beispiel: In den Fluren der ENSAE hängen überall Rauchverbotsschilder, unter denen Ascher angebracht sind, die eifrig von vielen Rauchern (Lehrern und Schülern) genutzt werden. Ursprünglich wurden diese Ascher angebracht, um jedem, der sich in Unkenntnis des Rauchverbots eine Zigarette angezündet hat, die Möglichkeit zu geben, sich dieser stilvoll wieder zu entledigen. Wer die mitunter haarstäubende Bürokratie der ENSAE ertragen will, muss sie mit Humor und Distanz betrachten, wie das viele Franzosen auch tun: Alles hat seine Vor- und Nachteile, man muss sich arrangieren, taktieren, Ruhe bewahren, sich nicht von schlechten Noten und Drohgebähren einschüchtern lassen. Die französischen Studenten (besonders jene aus den Classes Préparatoires, wo die Schüler mitunter 20 Stunden täglich arbeiten) sind sehr abgebrüht und lassen sich kaum einschüchtern. Im grössten Stress nehmen sie sich Zeit für Billard, Baby-Foot (Tischfussball), Joints und allgemeinnützliche Arbeit (besonders beliebt: Partys organisieren, bestimmte Randaktivitäten-Gruppen ins Leben rufen (Theater, Klettern, Experimentelles Kochen, Bibelstunde), in der Schüler-verwalteten Cafeteria Bier ausschenken, etc.). Die ENSAE unterstützt diese Aktivitäten finanziell auf grosszügige Weise. Es gibt grob verallgemeinert drei Sorten von Schülern: Die super fleissigen, die unerhört gute Noten haben und alles "rocken". Die demotivierten, Opfer des Systems, die sich zu sehr hängen lassen und dann am Ende des Jahres in die "rattrapage"(Nachschreibeklausuren) müssen. Und schliesslich die weitaus grösste Gruppe: die Kalkulierer, die nur haargenau so viel in die ENSAE investieren, wie unbedingt notwendig ist (und auch so noch sehr viel zu tun haben!), um am Ende auf einen Schnitt zwischen 12 und 13 Punkten zu kommen (12 ist Minimum). Der Stress der ENSAE (viele Fächer, viele schriftliche Arbeiten) zwingt sie zur gnadenlosen Optimierung: Zielgerichtet das Notwendigste tun, ist das Motto. Das passt natürlich zum Anliegen der Schule: Belastbare, mit einem sehr umfangreichen technischen Werkzeugkasten ausgestattete, recht vielseitig gebildete, sofort praktisch einsetzbare Statistiker, Finanz-Experten und Wirtschaftswissenschaftler für staatliche Institutionen, Banken und Unternehmen zu "schmieden". Viele Schüler gehen verschiedensten ausserschulischen Hobbys nach, und diese Aktivitäten werden häufig von der Schule mit Punktebonussen unterstützt. Die ENSAE will keine Fachidioten, sondern umfassend interessierte Studenten. Was auf der Strecke bleibt, ist die universitäre Vertiefung in Ideen, das philosophieren über Konzepte, die Faszination an Wissenschaft. Niemand "klopft" anerkennend nach Vorlesungen, keiner diskutiert das eben Erfahrene, wenige nur nehmen sich Zeit, komplizierte Zusammenhänge, die sich höchstwahrscheinlich nicht in einer Examens-Übungsaufgabe niederschlagen werden, zu verstehen. Den ENSAE-Studenten gelingt schliesslich die Quadratur des Kreises: Sie können kompliziertes Wissen, dass sie inhaltlich nicht tiefgründig verstanden haben, korrekt anwenden.


Die ENSAE bietet ausgesprochen gute Voraussetzungen, erste Erfahrungen mit technisch anspruchsvoller, empirisch fundierter und fachlich einwandfreier Arbeit zu sammeln: Es gibt eine ausreichende Anzahl leistungsfähiger und mit fast allen wichtigen statistischen Programmen ausgestatteter Computer, alle Schüler können drucken, soviel sie wollen. Für die obligatorischen Gruppen-Projekte steht eine paradiesische Datenfülle zur Verfügung, häufig direkt aus dem INSEE (französisches Institut für Statistik und Volkswirtschaft, von dem wirklich jeder Franzose schon einmal gehört hat, so einflussreich ist es in Frankreich!), an die man sonst nur schwer herankommen würde. Die Betreuung der Projektgruppen ist sehr individuell, die Schule gibt Unmengen an Geld für ein gutes "encadrement" ihrer Schüler aus. Der ENSAE-Student muss sich, im Gegensatz zum Humboldt-Studenten (sei er Mathematiker oder Wirtschaftler), umfangreiche Kenntnisse und Fertigkeiten sowohl im alltäglichen Umgang mit dem Computer (Navigation im Netzwerk, Microsoft Office, Outlook) als auch in recht schwierigen Programmen (SAS, C++) aneignen. Die dafür vorhandenen technischen Voraussetzungen sind für HU-Verhältnisse paradiesisch, und selbst die mitunter enttäuschende Qualität der angebotenen Kurse kann den pädagogischen Erfolg der Mischung aus Theorie und Praxis (konkrete Projekte) nicht verhindern. Die Bibliothek ist für alle Kurse an der ENSAE ausreichend mit Büchern ausgestattet: während meiner zwei Jahre an der Schule musste ich kein einziges Buch kaufen, und hatte immer Literatur in Hülle und Fülle. Zusammen mit der noch viel umfangreicheren Bibliothek des INSEE hat der Schüler der ENSAE Zugang zu einer fast erschöpfenden Auswahl an französischen Zeitschriften und Publikationen zu den Themen Statistik, Wirtschaft und Gesellschaft, sowie das Wichtigste der englischsprachigen Literatur. (Die Schule hat J-Store abonniert.) Zusätzlich werden die Kurse und Übungen in der Regel mit in der schuleigenen Druckerei gefertigten Skripten unterstützt, die automatisch in die Fächer der am Kurs teilnehmenden Schüler gelangen. Auch die schon sehr wissenschaftlichen Arbeiten aus den Projektgruppen können in dieser Druckerei gedruckt werden.


Die statistischen und ökonomischen Kurse an der ENSAE bieten eine grundsätzlich sehr gute Mischung aus mathematischer Strenge und Abstraktion einerseits, und Anwendungsorientiertheit andererseits. Die Professoren unterrichten in der Regel ein Gebiet, in dem sie selbst umfangreiche praktische Erfahrung gesammelt haben. Das pädagogische Gesamtkonzept der ENSAE ist sehr durchdacht: Ein Kanon an mathematischen und wahrscheinlichkeitstheoretischen Grundfertigkeiten wird immer und immer wieder eingehämmert, während gleichzeitig die unterschiedlichsten Gebiete gestreift werden. Am Ende seiner Schulzeit hat ein ENSAE-Student eine riesige Fülle von Wissen kennen gelernt, ohne sich in konzeptionell verschiedenen Gebieten zu verheddern. Die Mehrzahl der Examen an der ENSAE dürfen mit beliebiger Literatur geschrieben werden, es ist also so gut wie kein Auswendiglernen nötig! Es kommt stets darauf an, das erworbene Wissen möglichst schnell auf komplizierte konkrete Aufgaben anzuwenden, die einen hohen Grad an mathematischer Abstraktion erfordern.


Das kohärente und abgerundete Ausbildungsprogramm der ENSAE ist einmalig in Frankreich, nicht existent in Deutschland. Leider bleiben in so mancher Vorlesung die Ideen hinter den Formeln versteckt. Die Formalisierung der Probleme, die eigentlich dazu dienen soll, Konzepte in kurze Ausdrücke zu bringen, wird so zum unsinnigen Selbstzweck. Besonders in Makroökonomie wurden Gleichungen umgeformt und somit Nachweise geführt, ohne dass die Studenten ausreichende Informationen über die dahinter steckende Realität bekamen. Dieses Problem wird verstärkt durch pädagogische Schwächen und mangelnde Vorbereitung der Übungsleiter. Diese haben mitunter selbst die ENSAE besucht, wodurch sich schlechte Angewohnheiten weiter einschleifen. Das an sich sehr gute System der innerschulischen Evaluierung der Lehrenden durch die Schüler wird von der Schulleitung leider völlig ignoriert.


Eine weitere Unannehmlichkeit der ENSAE sind die obligatorischen Englisch-Kurse. Diese mögen vielleicht ganz gut gedacht sein (die Lehrer sind Muttersprachler, die Themen an sich interessant), für mich waren sie jedoch lediglich eine Qual (mit Anwesenheitspflicht natürlich, sonst würde ja, wie zu vielen Übungen, keiner mehr kommen), da weder inhaltlich noch pädagogisch anspruchsvoll.


Die vielen Kritikpunkte, die ich angebracht habe, vermögen aber nicht den positiven Gesamteindruck der ENSAE zu zerstören. Zunächst bietet die ENSAE für Wirtschaftswissenschaftler eine sehr gute Möglichkeit, sich mit quantitativen Techniken vertraut zu machen. Alle an Wirtschaft und Statistik interessierten Studenten mit sehr guten mathematischen Fähigkeiten (also nicht zuletzt Mathematiker!) haben an der ENSAE die so gut wie einmalige Möglichkeit, in sehr kompakter Form eine umfangreiche Ausbildung in den in der Praxis wichtigsten und zugleich schwierigsten Gebieten zu erfahren. An echten Herausforderungen für Mathematiker mangelt es dabei keineswegs: Viele ENSAE-Studenten haben eine Vorausbildung, die einem Mathe-Vordiplom mehr als ebenbürtig ist, und in Vorlesungen wie Dynamische Optimierung (freiwillig) bleibt auch den Mathematikern die Luft weg! Mathematikstudenten dürften ausserhalb der ENSAE kaum die Gelegenheit haben, Wirtschaftsvorlesungen zu hören, die die mathematischen Abstraktionen in einem für sie angemessenen Tempo und Niveau präsentieren. Ganz zu schweigen von dem enormen Umfang an Statistik-Kursen die man in Berlin einfach nicht findet! Wichtig für Mathematiker: Wenn ihr euch im ersten Semester (wie ich, beispielsweise) nicht ausgelastet fühlt, da euch viele Kurse bekannt vorkommen (Analysis, Wahrscheinlichkeitslehre, Algebra), dann tragt euch doch einfach in Maitrise-Kurse an der HU-Erasmus-Partner-Uni Paris 6 Jussieu ein. Diese Kurse werden von der HU anerkannt und gestatten euch, einen Blick in den französischen Uni-Alltag zu werfen. Ich habe noch nicht mit der HU über die Anerkennung meiner ENSAE-Kurse an der HU in Mathe verhandelt, aber es wird wohl ungefähr folgendes dabei herauskommen: Zwei Statistik-Kurse, zwei Wahrscheinlichkeitstheorie-Kurse, das komplette Nebenfach VWL, das komplette Studium nach freier Wahl. Bleiben wohl mindestens noch 1,5 bis 2 Jahre Mathe-Studium! Aber da existieren noch keinerlei Erfahrungswerte.


Ein weiteres Plus der ENSAE: Die Studenten werden an den Arbeitsmarkt herangeführt. Jeder muss hier lernen, Bewerbungen zu schreiben, sich zu informieren, zu präsentieren, Gespräche zu führen, sich einen Kopf über seine konkrete Zukunft zu machen, um jeden Sommer ein interessantes Praktikum zu finden. Während dieser Praktika findet man nicht zuletzt heraus, ob ein konkretes Gebiet wirklich gefällt. Ich möchte noch einige Zeit weiter studieren, aber ich weiss jetzt viel genauer als vorher was, und habe eine Vorstellung von dem, was danach auf mich zukommt.


Behält man dies im Auge, wird alles andere erträglich. Hinzu kommt natürlich die sehr interessante und schöne Stadt Paris; das Leben in Frankreich; das Entdecken französischer Musik, Literatur, Macken, Stärken, Essen, Wein; die Stilsicherheit, Unaufgeregtheit, Lockerheit, Antiautorität der Franzosen. All das entschädigt bei weitem für so einige Unannehmlichkeiten der ENSAE. Und wem Frankreich wirklich ans Herz wachsen sollte (und dafür braucht es mindestens zwei Jahre), der hat gut vorgesorgt: Der hervorragende Ruf der ENSAE in Frankreich kann selbst für Ausländer so manche Tür des recht verschlossenen französischen Arbeitsmarktes öffnen. Ganz zu schweigen von der unerhörten Fülle von zusätzlichen universitären Diplomeinstudiengängen (sogenannten DEA's, die ein Jahr dauern und in der Regel wie echte deutsche Diplome angesehen werden), zu denen man als Absolvent oder Schüler der ENSAE sehr leichten Zugang bekommt. Stünde ich noch einmal vor der Wahl, das Doppeldiplomprogramm zu machen, ich würde mich wieder dafür entscheiden!


Martin Bellach
August 2004