Humboldt-Universität zu Berlin - Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät

Bericht von Manh Cuong Vu, 2004

Schon gleich am Anfang meines Studiums in VWL an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin bin ich durch ein Werbungsplakat auf das Doppeldiplomprogramm zwischen der HU und der Ecole Nationale de la Statistique et de l'Administration Economique in Paris aufmerksam geworden. Damals war es mir schon klar, dass dies für mich eine geradezu perfekte Studienkombination ist und ich mich bemühen musste, um die Voraussetzungen für die Aufnahme in das Programm erfüllen zu können.

Erste Herausforderung: Ich konnte kein Französisch. Da diese schöne Sprache trotzt meines Interesses leider nie in meinem Schulplan einen Platz gefunden hatte, entschloss ich mich, zügig diese neue Fremdsprache kennen zu lernen. Alle meiner Versuche im Grundstudium, einen Platz im Französisch-Kurs des Sprachzentrums der HU zu bekommen, waren vergeblich. Das Sprachzentrum der HU argumentierte immer, VWL habe ja wenig mit Französisch zu tun, und von daher habe ich keinen Vorrang den geisteswissenschaftlichen Zeitgenossen gegenüber. Ich habe daher andere Wege beschritten, um die Sprache zu erlernen, wie z.B. Kurse an privaten Sprachinstituten in Berlin, gab aber wegen der hohen Kosten dieser Sprachkurse nach kurzer Zeit diese Möglichkeit auf. Erst ein Jahr vor meinem Aufenthalt in der Haupstadt der Fünften Republik konnte ich durch die enge Tür des Sprachzentrums der HU kommen. Diesmal mit Hilfe des damaligen Betreuers des Programms, nachdem ich ihm über meine Angelegenheit erzählt hatte. Fazit meiner ersten Erfahrung für diejenigen, die sich für einen Aufenthalt im Ausland interessieren und irgendein Problem haben: Sprecht den/die verantwortliche(n) Betreuer(in) einfach an. Er/sie ist deswegen für Euch da!

Im Allgemeinen gibt mir ein Rückblick auf die Zeit an der ENSAE und in Paris immer ein gutes Gefühl. Abgesehen von einigen Schwierigkeiten am Anfang und der Hektik am Ende kann ich meinen zweijährigen Aufenthalt in einer der schönsten Städte der Welt und an einer der anerkannsten Institutionen mit Rücksicht nicht nur auf die französische sondern auch auf die internationale Ebene fast nur positiv beurteilen. Zu den Schwierigkeiten am Anfang zählen z.B. die Wohnungssuche, der Papierkram, die Sprache sowie das Tempo der einheimischen Studenten. Die Hektik am Ende kennzeichnet sich durch die ganz nach hintern verschobenen Prüfungen und das unmittelbare danach bevorstehende Praktikum.

Die Gründe dafür möchte ich kurz beschreiben:
Erstens, die ENSAE bietet zahlreiche umfangreiche, quantitativ anspruchsvolle und dennoch praxisnahe Lehrveranstaltungen. Dieses hohe Qualitätsniveau ist vermutlich auf das Mutterinstitut INSEE (Nationales Institut für Statistik und Wirtschaftsforschung) und das französische Finanz-, Wirtschafts- und Industrieministerium zurückzuführen. Die Administration und die Lehrkraft an der ENSAE sind meist in einem der beiden Institutionen beschäftigt. Ein ENSAE-Abschluss bietet darum gute Voraussetzungen für eine mögliche Kariere an den beiden hoch angesehenen staatlichen Organisationen. Außerdem erfreuen sich die ENSAE-Absolventen einer sehr hohen Aufmerksamkeit der großen Banken (BNP Paribas, Sociétés Générales, JP Morgan), von Weltkonzernen (AXA, Universal), Wirtschaftsprüfungsfirmen (PwC), sowie internationalen Institutionen (UNO, Weltbank, OECD, IMF). Dies kann durch deren Beteiligung am von den ENSAE-Schülern organisierten jährlichen Wirtschaftsforum und durch zahlreiche Pratikaangebote an ENSAE-Schülern belegt werden. Der Ruf der ENSAE wird zudem durch ihre guten Beziehungen mit der London School of Economics und der Harvard University, sowie mit MIT, Columbia University oder Standford University bestätigt. Nicht selten erhalten ENSAE-Studenten und -Diplomanten Studien- und Forschungsangebote an solchen weltweit bekannten Universitäten.

Zweitens, man studiert an einer kleinen Schule und fühlt sich trotzdem, sich auf einem herausgehobenen Niveau zu befinden. Die autoritäre Schulform, die am Anfang für die Humboldtianer ziemlich nervig schien, entpuppte sich nach und nach als eine gute Methode, die Ausdauer der Leistungsfähigkeit der Studierenden weiter zu entwickeln. Es unterscheidet sich völlig von dem deutschen Universitätssystem, das auf Freiheit und private Gestaltung der Studenten mehr Wert legt. An der ENSAE hat man immer was zu tun, dabei ist eine hohe Konzentrationsfähigkeit gefordert. Man hat zum Beispiel im zweiten Studienjahr gleichzeitig drei Hausarbeiten zu erledigen und eine Reihe von Klausuren zu schreiben. Eine intensive Klausurenvorbereitung ist deswegen von großer Bedeutung, da man kaum noch Luft direkt vor einem Prüfungstermin bekommt. Im Vergleich zu Deutschland gibt es öfter Ferientage an der ENSAE, wo man aber eher auch lernen müsste, denn danach kommt immer eine Klausurenwelle, die manchmal gleich am ersten Wiedereintrittstag anfängt.

Drittens, "Kennen lernen leicht gemacht", heißt das Motto zwischen den Schülern der ENSAE. Es gibt oft Partys, am Anfang jedes Studienjahres kann man sogar an einem langen Integrationswochenende teilnehmen. Die Franzosen sind bekannt für ihre Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft, insbesondere den "Fremden" gegenüber, was ich nun aus eigener Erfahrung bestätigen kann. Trotz meiner anfänglich mangelnder Französisch-Kenntnisse fühlte ich mich nicht allein, denn die Klasse war klein und gemeinschaftliche Aktivitäten brachten die Schüler näher zusammen. Manche Kontakte stellten sich später zwar als oberflächlich heraus, aber insgesamt ist das Klima an der Schule für ausländische Studenten schon sehr angenehm. Bei Gruppenhausarbeiten soll man sich am bestens mit Franzosen verbinden, denn jede Hausarbeit verlangt eine sprachlich und in der Form sehr spezifische schriftliche Darstellung, welche für die französischen ENSAE-Studenten Gang und Gäbe und für Ausländer relativ fremd ist.
Darüber hinaus, kulturelle Aktivitäten sind sehr beliebt bei den Statistikern. Die zahlreichen von den Schülern organisierten und von der Schule finanzierten Clubs bieten fast jede Woche vergünstigte studentische Programme wie z.B. kostenlose Theaterkarten oder ermäßigte Konzertkarten an. Außerdem kann man sich über das umfangreiche Angebot an Sportarten freuen. Ich habe mich zwei Jahre lang an dem Modern Jazz Tanzkurs eingeschrieben und es machte mir echt viel Spass. Am Ende jedes Jahres präsentieren die Schüler der Laiengruppe ein Konzert und zwei Tanzvorführungen. Die Letzteren wurden immer herzlich von der ganzen Schule unterstützt. Man kann sogar von der Teilnahme am Sportunterricht oder an kulturellen Veranstaltungen profitieren und dadurch seine Endnote von bis zu 0,5 Punkten verbessern - bei einer möglichen Gesamtpunktzahl von 20. Jedes Jahr gibt es ein Debating-Competition, eine Art Diskussionsführung zu einem bestimmten Thema zwischen zwei Teams. Dies ist schon zu einer Tradition in der Pariser Grande-Ecole-Gemeinschaft geworden. Seit dem letzten Jahr organisierte die Deutsche Botschaft mit Unterstützung des Goethe-Instituts sogar einen derartigen Wettbewerb auf Deutsch. Das ENSAE-Team hat in diesem Jahr gewonnen, was die Deutschlehrer und -studierende an der ENSAE sehr motivierte. Außerdem sind die Fremdsprachenkurse an der ENSAE sehr gut, d.h. mit muttersprachlichen Lehrern und das Angebot beschränkt sich nicht nur auf Englisch, Französisch und Deutsch, sondern auch Spanisch, Italianisch, Russisch und sogar Chinesisch und Japanisch stehen als alternative Kurse zur Verfügung. Ich war im zweiten Jahr im Theaterkurs auf Englisch, sehr zu empfehlen wegen der lockeren Atmosphäre und eines sehr guten irischen Lehrers.

Viertens und auch als letzte Anmerkung: Auf keinen Fall darf man das Pariser Leben verpassen, selbst wenn man so viel an der Schule zu tun hat. Ganz zu schweigen von den tollen Museen, Parks, Kirchen, Cafés und Clubs, war Paris eine Traumstadt für mein besonderes Hobby: das Kino. Mit dem - ohne Übertreibung - besten Cinémasystem der Welt schien Paris für einen Kinoliebhaber wie mich ein Paradies zu sein. Mit dem Studentenausweis oder der Imaginaire-Karte (dem einjährigen Fahrkartenausweis für Studenten unter 26 Jahre, der noch kostengünstiger als unser umstrittenes Semesterticket ist), kann man sich sogar viel billiger Filme anschauen. Die Filmauswahl ist stets kulturell vielfältig und umfangreich, vom aktuellsten amerikanischen Blockbuster bis zu repräsentativen Filmen aus den Dritte-Welt-Ländern. Manche davon kommen garantiert erst in ein, zwei Jahren in die deutsche Kinos, oder niemals. Ich habe mich nur schwer mit der Tatsache abfinden können, "meine traumhafte Welt" verlassen zu müssen.

Zusammenfassend, der zweijährige Aufenhalt an der ENSAE in Paris hat mir viel, sehr viel mit auf meinen weiteren Weg gegeben. Nicht nur meine fachlichen und Französischkenntnisse haben sich verbessert, sondern mein kulturelles Wissen hat sich enorm bereichert. Falls ich noch mal die Wahl hätte, würde ich selbstverständlich die gleiche Entscheidung fällen.


Bericht von Manh-Cuong Vu
August 2004