Humboldt-Universität zu Berlin - Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät

Abschließender Erfahrungsbericht zum Doppelstudiengang der Humboldt-Universität zu Berlin und der ENSAE Paris, 2007-2009


Mein Name ist Clemens Baumbach. Ich habe im Jahr 2005 ein Bachelorstudium im Fach Volkswirtschaftslehre an der Humboldt-Universität (HUB) begonnen. Noch während meines ersten Studienjahres wurde ich auf ein zwischen der HUB und der Ecole Nationale de la Statistique et de l'Administration Economique (ENSAE) in Paris bestehenden Doppeldiplomprogramm aufmerksam. Ich qualifizierte mich für dieses Programm und habe zwei Jahre in Paris erfolgreich studiert. Jetzt bin ich wieder zurück und im Rahmen des Austauschprogrammes noch ein weiteres Jahr in Berlin.

Zunächst ein paar allgemeine Worte zum Ablauf des Programms. Um mich für die Teilnahme am Austausch zu qualifizieren, musste ich an einem einjährigen Mathematik-Vorbereitungskurs teilnehmen. Zum einen sollte der Kurs helfen, die mathematischen Kenntnisse der Teilnehmer am Austausch zu vertiefen. Zum anderen sollten all jene Kandidaten ausgesiebt werden, die den mathematischen Ansprüchen der ENSAE voraussichtlich nicht genügen würden. Das Austauschprogramm selbst hatte folgenden Aufbau. Auf zwei Jahre Bachelorstudium an der HUB folgen zwei Jahre Studium an der ENSAE und darauf ein weiteres Jahr an der HUB. Nach erfolgreichem Abschluss dieses fünfjährigen Programms erhält man drei Abschlüsse: den ursprünglich begonnenen Bachelor der HUB (entweder Volkswirtschaftslehre oder Betriebswirtschaftslehre), den Abschluss ``Statisticien Economiste'' der ENSAE und den Master in Volkswirtschaftslehre der HUB. Das bedeutet also, dass die HUB das erste bzw. das zweite Jahr an der ENSAE als das dritte des Bachelors bzw. als das erste Jahr des Masters anerkennt. Umgekehrt erkennt die ENSAE das an der HUB zu absolvierende zweite Jahr des Masters an. Ich werde meinen Bericht über persönlichen Erfahrungen mit dem Austauschprogramm in drei Abschnitte unterteilen. Im ersten Abschnitt wird es kurz um den Mathematik-Vorbereitungskurs gehen. Danach folgen interessante persönliche Eindrücke, die ich während der Zeit in Frankreich gesammelt habe. Schlussendlich werde ich noch kurz auf das zum jetzigen Zeitpunkt noch junge letzte Jahr des Masters eingehen.

Für die Leitung des Mathematik-Vorbereitungskurses hatte man einen waschechten Franzosen engagiert. Sein Name ist Lugan Bedel und er war zur Zeit des Vorbereitungskurses von französischer Seite am Austausch beteiligt. Da es in Frankreich keine Bachelor- oder Master-Abschlüsse gibt, ist der Programmablauf für teilnehmende Schüler der ENSAE etwas anders als für Studenten der HUB. Ein am Programm teilnehmender ENSAE-Schüler absolviert das erste und zweite Jahr an der ENSAE und schließt sein Studium nach dem dritten, an der HUB absolvierten, Jahr ab. Dafür erhält er dann das schon genannte Diplom der ENSAE (Statisticien Economiste) und den Master in Volkswirtschaftslehre der HUB.
Als der Mathematik-Vorbereitungskurs begann, gab es etwa zehn Teilnehmer, die sich für das Austauschprogramm qualifizieren wollten. Am Ende wurden aber nur drei davon in das Programm aufgenommen. Der Kurs war sehr anspruchsvoll. Die dort präsentierte Mathematik hatte wenig mit dem zu tun, was man im Rahmen des Bachelors VWL beherrschen gelernt hatte. Kurz gesagt ging es nicht mehr um das Ausrechnen von Werten, sondern um das Beweisen allgemeiner mathematischer Propositionen. Das war für die meisten Kursteilnehmer etwas grundlegend Neues. Der Kurs fand durchgehend auf Französisch statt und bestand aus zwei Elementen. Zum einen gab es Frontalunterricht, d. h. der Lehrer schreibt an der Tafel und die Schüler kopieren. Bei Verständnisproblemen waren Fragen aber durchaus erwünscht und wurden mit ausführlichen Erklärungen beantwortet. Das zweite Element des Kurses waren die Hausaufgaben, die es zu lösen galt. Während der Zeit des Vorbereitungskurses kann ich mich an kein Wochenende erinnern, an dem ich nicht gemeinsam mit zwei Mitstreitern an den einzureichenden Aufgaben gearbeitet hätte. Aber auch sonst kreisten meine Gedanken quasi ständig und ausschließlich um die Übungsaufgaben. Ich hatte mich riesig gefreut, dass ich, obwohl ich mich gegen ein Mathematikstudium entschieden hatte, letztendlich doch noch mit abstrakter Mathematik in Berührung kam. Die eingereichten Aufgaben wurden binnen einer Woche vom Lehrer korrigiert und mit umfangreichen Randnotizen versehen. Bestanden dennoch Unklarheiten, so wurde sich Zeit genommen, auch diese noch zu beseitigen. Für seine Geduld und pädagogische Begabung ein großes Lob an den ehemaligen Lehrer und heutigen Freund, Lugan Bedel.

Nach dem Vorbereitungskurs ging es für mich im August 2007 nach Paris. Der Schulbetrieb an der ENSAE sollte erst im September beginnen. Jedoch hielt ich es für klug, mir ein kleines Zeitpolster für die Wohnungssuche einzuräumen. Nach allem, was ich bis dahin über den Pariser Wohnungsmarkt gehört hatte, schien mir diese Vorsicht sehr geraten zu sein. Die Wirklichkeit in Paris sollte meine Befürchtungen aber noch übertreffen. Da ich keine persönlichen Kontakte in Paris hatte, war ich auf öffentlich ausgeschriebene Wohnungen angewiesen. Wollte man sich nicht an Agenturen wenden, um großen Vermittlungshonoraren aus dem Weg zu gehen, so blieb nur noch die Möglichkeit, sich direkt an die Wohnungsbesitzer zu wenden.
Eine der größten, vielleicht die größte, Zeitung, in der man derlei Annoncen findet, heißt PAP, was für Particulier à Particulier steht. In dieser Zeitung sind nach den Pariser Arrondissements geordnete, kurze Wohnungsannoncen mit zugehöriger Telefonnummer des jeweiligen Ansprechpartners abgedruckt. Natürlich gab es auch Wohnungen in den Pariser Vorstadtbezirken. Jedoch waren mir die Bilder der brennenden Autos noch zu genau im Gedächtnis, als dass ich ernsthaft erwägt hätte, mich außerhalb von Paris einzuquartieren. Ich hatte bestimmt über dreißig Telefonnummern ausprobiert, ohne auch nur zu einem einzigen Besichtigungstermin zu kommen. Entweder war trotz mehrfachen Anrufens niemand zu erreichen oder es hatte sich bereits ein zukünftiger Mieter gefunden. Allerdings hatte ich einen Fehler gemacht. Ich hatte mir die Zeitung mit den Annoncen nicht am Tage ihres Erscheinens besorgt, sondern zwei oder drei Tage danach. Das nächste Mal erstand ich die Zeitung zum frühst möglichen Zeitpunkt. Aber auch auf diese Weise hatte ich nicht mehr Glück. Allerdings fanden sich in dieser Ausgabe der Zeitung einige Annoncen, bei denen anstelle einer Telefonnummer der konkrete Besichtigungstermin angegeben war.
Wenn man durch die Straßen von Paris läuft und Gruppen von etwa zehn bis zwanzig vor einem unscheinbaren Hauseingang wartenden Studenten begegnet, dann handelt es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine Wohnungsbesichtigung. Dabei werden die Wartenden einzeln in die betreffende Wohnung gelassen und dürfen sich umschauen. Es werden ein paar Fragen zur Person gestellt, die dem Vermieter bei der Wahl des Mieters helfen sollen und bevor man geht, hinterlässt man noch Namen und Handynummer. In den meisten Fällen wird man nicht zurückgerufen. Ich ging nach Paris mit der Hoffnung, bereits nach einer, spätestens aber nach zwei Wochen eine Wohnung zu haben. Dem war aber nicht so und deshalb war ich schon ziemlich angespannt, als ich dann doch einmal zurückgerufen wurde. Ob ich noch Interesse habe, fragte man mich. Ich versicherte, dass dem so sei und machte einen Termin für die Unterzeichnung der notwendigen Papiere aus. Die Wohnung, um die es sich handelte, war nicht das, worin ich den Rest meines Lebens hätte verbringen wollen, aber zu diesem Zeitpunkt hätte ich so ziemlich alles akzeptiert. Erst als ich der Wohnung, die wegen ihrer insgesamt 10 Quadratmeter diesen Namen eigentlich nicht verdient, durch ein bisschen Farbe eine persönliche Note geben wollte, merkte ich, wie unerfahren ich war. Auf den zweiten Blick war die Wohnung nämlich unzumutbar. Ganz auf mich allein gestellt, verzweifelt und ohne Erfahrung in solchen Dingen war ich einem unverschämten Betrüger auf den Leim gegangen. Ich hätte schon darüber stutzen sollen, dass ausgerechnet ich, der Ausländer, unter all den Mitbewerbern für die Wohnung ausgewählt worden war. Im Rückblick glaube ich, dass es einfach niemand anderen gab, der nach der Besichtigung noch an der Wohnung interessiert war. Tatsache war jedenfalls, dass es in der Wohnung Kakerlaken gab und dass in einem etwa einen Kubikmeter großen und durch eine Klappe nicht ohne Weiteres einsehbaren Stauraum über der Dusche---in der man nicht aufrecht hätte stehen können--eine florierende Kolonie von blauen, grünen und grauen Schimmelpilzen entwickelt hatte. Hinter der Tapete sah es nicht besser aus. Da erst bemerkte ich den seltsamen Geruch, der mir Zeichen genug hätte sein müssen. Zum Glück war ich zu diesem Zeitpunkt noch im Hotel untergebracht. So musste ich keine einzige Nacht in dieser Schimmelgrotte verbringen. Zurück im Hotel verfasste ich handschriftlich einen Brief an den Vermieter, den ich so formal und trotzdem so scharf wie nur möglich hielt. Ich machte den Vermieter auf die zahlreichen Mängel aufmerksam und bezichtigte ihn der mutwilligen Täuschung. Gleichzeitig teilte ich ihm meine Absicht mit, von dem Vertrag zurückzutreten und forderte die Rückzahlung der Kaution. Einige Tage des Zitterns später erhielt ich einen Anruf, in dem sich der Vermieter echauffierte und mich der Lüge bezichtigte, sich aber letztendlich dazu bereit erklärte, das ganze Geschäft rückabzuwickeln. Diesen Albtraum werde ich nie vergessen. Ich hatte den Geruch der verschimmelten Wohnung noch mehr als ein halbes Jahr danach in der Nase.
Die unzumutbare Wohnung war ich also wieder los. Ich war am Beginn meiner Suche nach einer passenden Unterkunft. Durch Zufall stolperte ich im Internet über die Anzeige einer Organisation für intergenerationelles Wohnen. Die Idee hinter der Organisation war die folgende. In Frankreich gibt es viele Wohnungseigentümer. Viele davon sind in hohem Alter aufgrund eines schlechten Gesundheitszustands dazu gezwungen, ihre Wohnungen zu verlassen. Vermittelt man diesen Senioren aber junge Studenten, die bei ihnen wohnen und so ein wachendes Auge auf sie werfen können, so profitieren beide Parteien. Ich konnte mir eine solche Lösung für mich sehr gut vorstellen. Und so ging ich am Folgetag in die Zentrale der Organisation und trug meinen Fall vor. Man hielt mich für geeignet und vermittelte mir kurzfristig einen Platz. Später sollte ich ein Praktikum in dieser Organisation machen und erkennen, dass ich ein riesiges Glück hatte, da eine derart schnelle Vermittlung nicht der Regelfall ist. Ich bekam ein Zimmer bei einer ganz kleinen alten Dame im fünften Arrondissement. Miete musste ich keine zahlen. Stattdessen hatte ich unter der Woche jeden Tag vor 19 Uhr zu Hause zu sein. Das Zimmer wurde mir sozusagen gegen meine körperliche Präsenz zur Verfügung gestellt. Die alte Dame hat noch eine Tochter, die sich um ihre alte an Angstzuständen leidende Mutter kümmert, und selbst auch schon im Rentenalter ist. Vom ersten Tag an verstand ich mich gut mit den beiden Damen und zähle sie bis zum heutigen Tag zu meinen Freunden so seltsam sich das wegen des großen Altersunterschieds anhören mag. Wäre ich nicht bei den beiden Damen gelandet, hätte ich niemals so viel über Frankreich und speziell über Paris gelernt. Die alte Dame ist ein Pariser Original und hatte Persönlichkeiten wie Maurice Ravel noch mit eigenen Augen am Pult stehen sehen. Was diese Art des Wohnens angeht, so sollte sie sich später als nicht optimal herausstellen, jedenfalls nicht für Schüler der ENSAE, die jede Minute zum Studieren benötigen.

Und somit komme ich zu meiner Schulzeit in Paris. Dass ich von ``Schulzeit'' spreche, kommt nicht von ungefähr. Die ENSAE ähnelt in meinen Augen viel mehr einer Schule als einer Universität. An einer Universität wie der HUB bekommt man seinen Abschluss, zum Beispiel den Bachelor, wenn man die dazu nötigen Credit Points erbracht hat. Wie und wann man die Punkte erbringt, ist sekundär. An der ENSAE läuft das anders. Alles ist genau geregelt. Im Besonderen ist geregelt, welche Fächer man wann belegen muss. Aber von ``belegen'' zu sprechen ist nicht ganz richtig, denn ``belegen'' erweckt den Anschein, man hätte sich für etwas entschieden, obwohl es in Wirklichkeit nie eine Wahl gegeben hat. Dadurch kann man von Klassenstufen sprechen. Und wo es Klassen gibt, da kann man natürlich auch sitzen bleiben. So gab es gewisse Kriterien, die erfüllt sein mussten, damit ein Schüler in die nächste Klassenstufe versetzt wird. In einigen Fächern, die als besonders wichtig eingeschätzt wurden, mussten Mindestnoten erbracht werden. Außerdem musste der Jahresnotenschnitt einen Mindestwert überschreiten. In Anbetracht der ohnehin hohen Anforderungen der ENSAE sind derlei Versetzungshürden ein zusätzliches, nicht zuletzt auch mentales, Problem.
Zu den angesprochenen hohen Anforderungen ist folgendes zu sagen. Der reguläre französische ENSAE-Schüler hat eine ganz andere Vorbildung als jemand, der wie ich als Quereinsteiger an der ENSAE landet. Woher kommt dieser Niveauunterschied, denn es ist ein signifikanter Niveauunterschied? In Frankreich gibt es sogenannte Grandes Ecoles, die im Ansehen weit über den staatlichen Universitäten stehen. Frankreichs Elite wird nicht an der Universität, sondern an den Grandes Ecoles herangezüchtet. Um jedoch Schüler einer Grande Ecole zu werden, muss man sich bei einem sogenannten Concours, d. h. einer Reihe von Prüfungen, gegen Mitbewerber aus ganz Frankreich durchsetzen. Die Vorbereitung auf solche Concours erfolgt an den Classes Préparatoires. Dabei handelt es sich um einen zweijährigen Dauerdrill. Persönlich habe ich nur von den Classes Préparatoires in Mathematik und Physik gehört. Und als jemand, der nie in einer Classe Préparatoire war, habe ich nur eine vage Ahnung von den Belastungen, denen die Schüler dort ausgesetzt waren. Man hört aber, dass nicht selten auch Aufputschmittel Verwendung finden, um ganze Nächte durch lernen zu können. Ein Gutes hat dieses unvorstellbare Lernpensum aber. Nachdem ein Schüler die zwei Jahre Classe Préparatoire hinter sich gebracht hat, verfügt er zwangsläufig über eine derart breite und solide Basis an mathematischen Kenntnissen und praktischen mathematischen Fähigkeiten, wie man sie in Deutschland wohl nur im Laufe eines Mathematikstudiums erlangen kann.
Zwar muss man als Kandidat für das Doppeldiplomprogramm nur gegen Mitstreiter aus der HUB bestehen, sich also in einem Mini-Concours durchsetzen. Angekommen an der ENSAE muss man aber gegen die mathematische Übermacht der ehemaligen Classe Préparatoire Schüler ankämpfen. Von daher sind die Ausgangsbedingungen für Franzosen und HU Studenten nicht gleich. Der Lehrplan der ENSAE richtet sich natürlich an den Fähigkeiten der Franzosen aus. Dementsprechend hart war für mich der Einstieg ins Jahr. Und nicht nur der Einstieg. Der Stundenplan an der ENSAE ist ähnlich voll wie der einer normalen Schule. An zwei Tagen in der Woche gibt es freie Nachmittage, so dass man an aus einem breiten Spektrum fakultativ wählbaren Sportkursen teilnehmen kann. Als ich das erste Jahr der ENSAE begann, gab es keine anderen HU Studenten an der ENSAE. Im Besonderen gab es keine HU Studenten im zweiten Jahr der ENSAE, die uns entscheidende, hilfreiche Tipps hätten geben können. Wahrscheinlich hätte man uns dann geraten, auf jeden Fall an einem dieser Sportkursen teilzunehmen, um die damit verbundenen Zusatzpunkte zu kassieren. Diese Zusatzpunkte sind extrem wertvoll, da sie auf den Jahresschnitt addiert werden und so entscheidend dazu beitragen können, das Jahr zu validieren. Da ich ein absoluter ENSAE-Neuling war, unterschätzte ich die Bedeutung dieser Sportkurse nicht nur für den Jahresschnitt, sondern auch für den seelischen Ausgleich.
Das erste Halbjahr an der ENSAE hätte rauer nicht sein können. Es gab zu viele Fächer. Diese Fächer teilten sich noch einmal in mathematische und in nicht-mathematische. Die mathematischen Fächer waren durchweg sehr anspruchsvoll und gingen ausgesprochen tief in die Materie, oft tiefer als pädagogisch sinnvoll gewesen wäre. Die nicht-mathematischen nahm ich fast ausschließlich als Schikane wahr. Dabei handelte es sich um Fächer, die nichts mit den Kernkompetenzen eines Statisticien Economiste zu tun haben. Ich vermute, dass solche Fächer in erster Linie dazu gedacht waren, den Druck auf die Schüler zu erhöhen. Mein Eindruck war, dass die ENSAE es darauf anlegt, Leistungsmaschinen zu produzieren, d.h. Fachleute, die noch unter sehr hoher Belastung funktionieren. Dafür spricht auch die Vielzahl der Projekte, die im Laufe des Jahres wie aus dem Nichts auftauchen und dann in sehr kurzer Zeit fertig zu stellen sind. Mit diesem Druck musste ich lernen klar zu kommen. Das fiel mir nicht leicht, denn mein Interesse an den mathematischen Fächern war groß. Nur ließ mir der überfüllte Stundenplan und der künstlich erzeugte Druck nicht die Zeit, mir jedes oder auch nur eines dieser Fächer bis zur blinden Geläufigkeit anzueignen. Stattdessen war ich gezwungen, mich durchzuschlagen, koste es was es wolle. Dabei blieb oftmals das Verständnis auf der Strecke. Am Ende eines jeden Halbjahres finden die Prüfungen dicht gedrängt binnen einer Woche statt. Es ist kaum zu glauben, aber im Schnitt hatte man mehr als zwölf Prüfungen in fünf Tagen. Das passte nicht zu meinem Lernverhalten. Oft konzentrierte ich mich auf ganz wenige Fächer. Das hatte zur Folge, dass meine Prüfungsergebnisse in den meisten von mir nicht vorbereiteten Fächern nicht gut genug waren, um mir zum benötigten Jahresschnitt zu verhelfen. Deshalb landete ich jedes Mal in den Rattrapages. Für mich waren diese Nachprüfungen lediglich eine Art zweiter Prüfungstermin. So ist das aber nicht gedacht. Kein Franzose will freiwillig in den Rattrapages landen, denn das bedeutet zusätzlichen Stress.

Jetzt, da alles vorbei ist, kann man rückblickend vielleicht folgende Empfehlung aussprechen: Metaphorisch gesprochen bedeutet sich für die ENSAE zu entscheiden so viel, wie sich zwei Jahre lang der Autorität eines sehr belesenen aber auch sehr eigenwilligen Lehrers zu unterwerfen. Einen Lehrer, der eine derartige Bandbreite von mathematischen und statistischen Disziplinen beherrscht, sucht man woanders vergebens. Kein anderer Lehrer wird einem in zwei Jahren einen Einblick in so viele verschiedene Wissensgebiete bieten können. Vermutlich fühlt sich der Lehrer während seiner Lehrtätigkeit auch noch von guten Absichten geleitet. Was aus Lehrersicht die richtige Medizin ist, wirkt beim Schüler aber längst noch nicht, vom bitteren Geschmack ganz abgesehen. Wer soll all diese schwierigen Lektionen in solch kurzer Zeit verdauen können? Diese Frage wird sich der Schüler sehr früh stellen. Aber was soll er machen? Nichts kann er machen, denn die Macht liegt in den Händen des Lehrers. Und der ist offensichtlich kein gelernter Pädagoge, sondern ein Mann vom Fach. (Letzteres ist ein gesamtfranzösisches Übel, da es dort eine Lehrerausbildung im eigentlichen Sinne nicht gibt.) Auflehnung ist keine Lösung, denn der Lehrer ist nicht tolerant. Er hat gewisse Ideen, die er unbedingt verwirklicht sehen will. Der Schüler hat einfach eine schlechte Verhandlungsposition. Ist er mit den Methoden des Lehrers nicht zufrieden, so soll er doch verschwinden. Der Lehrer hat überhaupt keinen Grund, auf die Forderungen des Schülers einzugehen. Das ergibt sich ganz natürlich aus der Meister-Schüler Beziehung. Irgendwie muss man also lernen, mit den Eigenheiten des Lehrers klar zu kommen. Oft wird man sich die Haare raufen wollen, wenn die pädagogisch sinnvolle Lösung scheinbar auf der Hand liegt und der Lehrer dennoch wie gewohnt daneben greift. Und das wäre alles nur halb so schlimm, wäre man es nicht selbst, der unter diesen immer wiederkehrenden Fehlgriffen zu leiden hat. Manchmal tut einem der Lehrer auch leid. Er hat doch so viel an seine Schüler weiterzugeben, nur stellt er sich überaus ungeschickt an und toleriert keine Kritik, denn wo käme man da hin?!
Wie oft habe ich von meiner ENSAE geträumt und mir ausgemalt, wie man sie zu einer international unschlagbaren Eliteschmiede machen könnte? Klar ist, die ENSAE hat bereits das Meiste, was man dazu benötigt. Fehlen tut es noch an pädagogischem Geschick, an mehr Rücksicht den Schülern gegenüber und an einer entspannteren und weniger autoritären Grundhaltung. Ob ich mich noch einmal für die ENSAE entscheiden würde, weiß ich nicht. Ich müsste eine Münze werfen, denn Vor- und Nachteile halten sich die Waage.

Zum Schluss möchte ich noch ein paar Worte zum letzten Jahr des Masters VWL in Berlin sagen. Es zeugt von einer Unkenntnis der ENSAE-Lehrinhalte seitens der HUB, wenn man als Programmteilnehmer dazu gezwungen wird, Lehrveranstaltungen zu besuchen, die bereits an der ENSAE belegt wurden. Alles in allem bleiben einem nur ganze 9 ECTS Punkte, die man sich frei aus dem Angebot der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät aussuchen kann, mithilfe derer man sich also spezialisieren kann. Die restlichen Pflicht- und Semipflichtfächer entsprechen dem, was ein normaler Masterstudent im ersten Jahr seines Masters VWL absolvieren muss. Das macht keinen Sinn. Jemand, der in der Lage war, die ersten zwei Jahre der ENSAE erfolgreich abzuschließen, ist einem Masterstudenten zu Beginn des zweiten Jahres seines Masters mehr als nur ebenbürtig. Deshalb sollte er, genauso wie der normale VWL-Masterstudent in seinem zweiten Jahr, die Möglichkeit haben, sein Studium in die Richtung zu lenken, die ihm beliebt.
Das Ganze hat noch eine zweite Seite. Ein letztes VWL Masterjahr mit nur 9 frei wählbaren Credit Points ist nicht nur für mögliche deutsche Teilnehmer am Austausch ein Grund, sich gegen die Teilnahme zu entscheiden. Was macht die HUB, wenn sich seitens der ENSAE keine Franzosen mehr finden, denen das Programm attraktiv erscheint? In diesem Fall wird die ENSAE die Kooperation fristlos aufkündigen und der Humboldt-Universität wird eines der elitärsten Austauschprogramme verlustig gehen, das sie derzeit besitzt---auch wenn man nicht immer den Eindruck hat, dass sie sich dessen bewusst ist.

Clemens Baumbach, Oktober 2010