Humboldt-Universität zu Berlin - Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät

Artikel im Hermes von Lorens Helmchen, 1996


Baguettes, Tischfußball und die Untergrenze von Fréchet-Dalmas

Eindrücke von einem Studienjahr an der ENSAE, Paris


Ihre Zeitung nennen sie "Point Ab" (point aberrant = der Ausreißer), sie spielen Fußball gegen die Kommilitonen von der London School of Economics, und sie haben gerade ihre eigene Internet-Homepage fertiggestellt. Sie rechnen schneller, als sie schreiben, werden später überdurchschnittlich gut verdienen und schummeln in Klausuren so wie Du und ich - die Studenten der Ecole Nationale de la Statistique et de l'Administration Economique, kurz ENSAE. So heißt die Hochschule im Pariser Vorort Malakoff, die seit 1960 Volkswirte und Statistiker ausbildet, die einmal Leitungsfunktionen im statistischen Zentralamt Frankreichs (INSEE), im Finanzministerium oder der Banque de France übernehmen oder für eine Unternehmensberatung, ein Meinungsforschungsinstitut oder eine Großbank arbeiten werden.

Wer zu den 120 Studenten gehört, die jährlich mit dem dreijährigen Studium an der ENSAE beginnen, hat meistens den steinigen Weg der berühmt-berüchtigten zweijährigen "classes préparatoires" mit Schwerpunkt Mathematik hinter sich. In den ersten beiden Studienjahren werden die Grundlagen der Mikro- und Makroökonomik, der theoretischen Statistik und Ökonometrie, der Betriebswirtschaftslehre, der Spieltheorie, der Demographie und Informatik vermittelt. Im dritten Studienjahr können Kurse und Seminare aus den Gebieten Statistik, Ökonometrie und Zeitreihenanalyse, Informatik und OR, Makroökonomik, Mikro- und Industrieökonomik sowie aus dem Gebiet Finanzierung und Versicherung gewählt werden. Der Formalisierungsgrad ist hoch. Zu allen Kursen in den ersten beiden Studienjahren finden Übungen statt, in denen die Studenten unter Anleitung eines Tutors die Aufgaben vorrechnen und dafür auch benotet werden.

Ein einjähriger Studienaufenthalt an der ENSAE bietet nicht nur Gelegenheit, Kurse zu belegen, die bei den Wiwis der Humboldt-Uni nicht angeboten werden, sondern erlaubt auch Einblick in das Innenleben einer "Grande Ecole", die gewissermaßen beispielhaft für die französische "exception culturelle" steht. Die Hochschule ist in der Lage, die besten Professoren des Landes auf Honorarbasis für mehrwöchige Vorlesungen und Seminare zu gewinnen. Abgesehen von einer kleinen Gruppe fest angestellter Lehrkräfte unterrichten die meisten Dozenten nämlich an anderen Universitäten Frankreichs oder gehören dem Forschungsinstitut CREST (Centre de Recherche en Economie et Statistique) an, das wie die ENSAE ebenfalls dem INSEE untersteht. Diese Vorgehensweise erlaubt es der Hochschule, die Lehrkräfte nach Maßgabe des angestrebten Kursangebots sowie der wissenschaftlichen und didaktischen Reputation des Professors auszuwählen. In regelmäßigen Abständen bewertet die "commission d'études" die Qualität der Lehrveranstaltungen auf der Grundlage der von den Teilnehmern ausgefüllten Evaluierungsbögen. Während meines Studienjahres kam es zweimal vor, daß einem Dozenten der Lehrauftrag entzogen wurde, weil deutlich geworden war, daß die Studenten - so wörtlich - "nichts verstanden hatten".

Die ENSAE ist sehr gut ausgestattet. Jeder Student erhält nach der Immatrikulation automatisch eine e-mail-Adresse und hat Zugang zu den sieben Computerräumen, die täglich elf Stunden geöffnet sind. Die Standardlehrwerke sind so oft vorhanden, daß die Leihfrist für diese Bücher zum Teil fünf Monate beträgt. Die Studenten können zwischen sechs verschiedenen Fremdsprachen und über zwanzig Sportarten wählen. Für die ausländischen Studenten aus nicht-frankophonen Herkunftsländern gibt es einen eigenen Französischkurs. Das "Bureau des Elèves" ist sehr aktiv. Im vergangenen Jahr veranstaltete es in der Normandie ein "weekend d'intégration" für alle neu aufgenommenen Kommilitonen, ein Wochenende in Amsterdam, eine Skifahrt nach Österreich, eine Woche Badeurlaub in Marokko. Für Feten werden eine Diskothek, ein Weinkeller oder ein Boot auf der Seine angemietet. Außerdem finden jedes Jahr eine Firmenkontaktbörse und eine "journée des organisations internationales" statt, die die Studenten bei der Organisation ihrer Pflichtpraktika unterstützen. Hierbei hilft auch der "Alumni Club" der ENSAE , der nicht nur den Kontakt der ehemaligen Studenten untereinander aufrecht erhält, sondern auch den derzeit Studierenden mit seinem umfangreichen Adressenverzeichnis hilft.

Im Rahmen eines kürzlich vereinbarten Austauschprogramms haben Studenten der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität die Möglichkeit, ein Jahr als Gasthörer an der ENSAE zu verbringen. Am Ende des Jahres stellt die Hochschule eine Übersicht aus, die alle besuchten Lehrveranstaltungen und erzielten Noten auflistet. Richtlinien zur Anerkennung der dort erbrachten Leistungen an der Humboldt-Universität werden zur Zeit ausgearbeitet. Aufgrund der fachlichen Ausrichtung der ENSAE auf die quantitativen Methoden der Ökonomie und ihrer starken wirtschaftstheoretischen Prägung richtet sich das Programm in erster Linie an Studenten der Volkswirtschaftslehre, die als Wahlpflichtfach idealerweise Statistik oder Ökonometrie oder beide belegt haben sollten. Da die ENSAE auch für ihr hohes Niveau im Studienzweig Finanzierung und Versicherung bekannt ist, dürfte das Programm auch für Studenten der Betriebswirtschaftslehre interessant sein, die neben einem quantitativen Fach ihren Studienschwerpunkt auf diesem Gebiet haben.


Dieser Artikel erschien am 7. Dezember 1996 in der 10. Ausgabe des Hermes (Zeitung der Studenten der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin).