Humboldt-Universität zu Berlin - Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät

Bericht von Malte Knüppel über einjähriges Studium an der ENSAE 1997


Studieren an der ENSAE


Im September 1997 begann ich mein einjähriges Studium an der ENSAE , und wenn man mich damals gefragt hätte, was ich denn da vorhatte, hätte ich gesagt: "Ich gehe zu einer französischen Uni." Das war natürlich größtenteils falsch. Denn die ENSAE ist keine Uni und ich bin ja gefahren statt gegangen, aber über letzteres hätte man wohl ohne weiteres geflissentlich hinweggesehen. Wenn es keine Uni ist, was ist es denn dann, fragt sich der aufmerksame Leser. Eine Grande Ecole, ist die Antwort, aber mit der sind wahrscheinlich die wenigsten zufrieden. Deshalb hier kurz eine Erläuterung: Grandes Ecoles gibt es in Frankreich viele unterschiedliche, und ihre Aufgabe besteht darin, die Elite des Landes nach dem französischen Abitur (dem Baccalaureat) in einem bestimmten Fachgebiet weiter auszubilden. Ihre Namen sind den meisten Franzosen als diese Bezeichnung oft nicht mehr verdienende Abkürzungen wie ENSTIMD, ENSMSE, ENSSPICAM, EN, ESIGELEC, X, ENITIAA, ESSEC oder ENSAE mehr oder weniger bekannt. Da die meisten französischen Studenten verständlicherweise gerne zur Elite ihres Landes gehören wollen, sind die Studienplätze an den Grandes Ecoles heißbegehrt und werden über ziemlich schwierige Auswahlverfahren vergeben, vor denen sich die Studenten in spe eine lange Zeit in ihren Kämmerchen und in Vorbereitungsklassen verkriechen und nichts weiter tun als lernen, lernen, lernen. Wer dann schließlich an einer Grande Ecole studieren darf, hat den knüppelharten Pflichtteil seiner Ausbildung schon erfolgreich hinter sich gebracht. Das Studium an der Grande Ecole ist dann so etwas wie die darauffolgende Kür.


Von diesem System hatte ich zwar schon gehört. Was eigentlich die Kür sein würde, wußte ich aber noch nicht. Daß es aber mit dem Studieren an einer deutschen Uni nicht zu vergleichen ist, wurde mir spätestens klar, als die Direktorin bei der Einführungsveranstaltung bemerkte, daß Arbeitslosigkeit für die Absolventen der ENSAE kein Thema sei (Es sei denn, sie arbeiten nach dem Studium in der "Division Emploi" des INSEE, dem französischen Statistikamt, dem die ENSAE räumlich angegliedert ist). Außerdem werden die Studenten dermaßen umsorgt, daß ich als deutscher Gaststudent schon fast ein schlechtes Gewissen bekam. Jeder Student besitzt ein eigenes Fach, sein "Casier", in das wie von Geisterhand alle für ihn wichtigen Unterlagen gelegt werden, von Skripten über Hinweise der Verwaltung bis zu Übungsaufgaben und Mitteilungen der Bibliothek. Die Verwaltung ist kein furchteinflößender Apparat, sondern besteht im wesentlichen aus zwei chronisch gut gelaunten Damen, die jeden duzen und für deutsche Verhältnisse undenkbare Wünsche erfüllen. Mein Lieblingsbeispiel: Als ich eine Quittung über die von mir noch nicht bezahlten obwohl recht niedrigen Einschreibgebühren benötigte, wurde sie mir ohne Probleme und mit dem Satz "Wir glauben Dir doch, daß Du noch zahlst" ausgestellt. Eine Liste kleiner Wunder könnte man fortsetzen über Rechnerausstattung, Mensa etc. Dafür wird von den Studenten allerdings auch verlangt, daß sie viel Zeit in ihr Studium investieren, was aber für mich als sich die Rosinen herauspickender Gasthörer keine so große Rolle spielte. Die Anzahl der Rosinen ist relativ hoch, da die meisten der Professoren von der ENSAE eher kurzfristige Lehraufträge erhalten und deshalb nur solange an der Ecole arbeiten dürfen, wie die Schüler und die Direktoren mit ihnen zufrieden sind. Die meisten Vorlesungen sind mathematisch anspruchsvoll, und die meisten der französischen Studenten können diesem Anpruch ohne größere Probleme gerecht werden. So bleibt ihnen die Zeit, sich auch noch außerhalb ihres Studiums an der Ecole zu engagieren. Ein Ergebnis dieses Engagements ist die einwöchige gemeinsame Skifahrt, die einmal im Jahr stattfindet und die ich jedem Austauschstudenten wärmstens empfehlen kann, solange er dabei gesund bleibt. Damit diese Skifahrt realisiert werden kann, verlegt die Verwaltung übrigens auf Wunsch der Schüler eine Ferienwoche in den Januar oder Februar, was zweifellos nicht an vielen Hochschulen denkbar ist. Ein großer Teil dieser Flexibilität beruht sicher auf der relativ guten Überschaubarkeit der Ecole mit ihren ungefähr 350 Studenten. Wenn man dann einmal studentisches Leben zum Beispiel in Form von entsprechenden Kneipen, Bars etc. sucht, sollte man sich eher in die Nähe der Sorbonne begeben, wo sich eine größere Anzahl von Studenten herumtreibt.


Das Studium an der ENSAE bedeutet natürlich sehr viel mehr als nur das Studium an einer französischen Grande Ecole. Es bedeutet zugleich, in Paris zu leben, der "aufregendsten Stadt des Universums" (siehe Asterix). Es ist schwer zu beschreiben, was den Berliner Studenten dort erwartet, da jeder diese Stadt unterschiedlich wahrnehmen wird. Paris und Berlin sind beide europäische Hauptstädte, aber ungefähr da hören die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Elegant, lebendig, anstrengend, pulsierend, eng, teuer, voll von On-Kultur (oder wie nennt man das Gegenteil von Off-Kultur ?) sind unvollkommene Versuche, meine Eindrücke von Paris wiederzugeben. Die Wahrnehmung verändert sich aber auch im Laufe der Zeit. Was einem am Anfang vielleicht noch als hektisch und laut erscheint, kann sich eben einige Monate später leicht als lebendig und anregend darstellen. Und selbst ehemals eingefleischte Kulturmuffel wie ich können sich auf einmal in Theatern und Museen wiederfinden.


Wer so etwas wie die Art zu feiern der französischen Studenten erleben will, der sollte auf keinen Fall das Weekend d'Integration der ENSAE verpassen. Eine Bizutage gibt es dabei glücklicherweise nicht, aber einen kleinen Kulturschock kann man trotzdem davontragen. Wer die Zeit dazu hat, sollte vor seinem Auslandsstudium jedenfalls nicht nur Sprach-, sondern auch Tanzkurse besuchen.


Wer über einigermaßen solide Französisch- und Mathematik- und Tanzkenntnisse verfügt, wer Kino, Konzerte, das Kennenlernen eines anderen Lebensstils und Croissants liebt oder lieben lernen will, für den ist ein Auslandsstudium an der ENSAE in Paris genau das Richtige.


Wer sich genauer über ein Auslandsstudium in Frankreich informieren will, dem kann ich den kostenlosen Studienführer Frankreich des DAAD empfehlen.



Malte Knüppel