Humboldt-Universität zu Berlin - Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät

Bericht von zwei Mathematikern, 1997/98

Wir, zwei Mathematikstudenten der Humboldt-Universität zu Berlin mit dem Ergänzungsfach VWL bzw. BWL, haben im Studienjahr 1997/98 am Austauschprogramm der HUB mit der ENSAE teilgenommen und möchten mit unserem Erfahrungsbericht alle folgenden Generationen dazu ermutigen, diese einmalige Chance zur Erweiterung des intellektuellen und kulturellen Horizontes zu nutzen. In unserem Bericht konzentrieren wir uns hauptsächlich auf unsere ENSAE-bezogenen Erfahrungen, weil sich jeder selbst ausmalen kann, welche außeruniversitären Aktivitäten ein einjähriger Paris-Aufenthalt zu bieten hat, die uns schon mal ein wenig von der Büffelei abzulenken vermochten.

Natürlich konnten wir unsere mehr oder weniger ausgefeilten Französischkenntnisse beträchtlich verbessern. Auf jeden Fall lernt man bei einem längeren Aufenthalt mehr als nur die berühmten Bau- und Kulturdenkmäler von Paris kennen. Die direkte Teilnahme am täglichen Leben, zum Beispiel das Leiden unter den dauernden Streiks im öffentlichen Nahverkehr, der Ärger über die Touristenhorden, aber auch die ausgelassene Party-Stimmung zur Fête de la Musique, bringen einem die Franzosen menschlich näher. In diesem einen Jahr haben wir auch den berühmten französischen Savoir vivre kennen- und schätzen gelernt. Denn obwohl die Franzosen behaupten, die Einwohner von Paris seien besonders rüde im Umgang mit ihren Mitmenschen, können wir solche Behauptungen, abgehärtet durch den Berliner Umgangston, nicht bestätigen. Außerdem ist in Paris auch das Wetter milder.

Unsere erste positive Überraschung an der ENSAE bereitete uns die dort überaus schnell und effektiv arbeitenden Bürokratie (das ist NICHT ironisch gemeint!), die uns Neuankömmlingen mit guter Organisation den Einstieg erleichterte. Solches wird natürlich erst durch die niedrigen Studentenzahlen einer Grande Ecole möglich. Als des Terrains unkundig bekamen wir Austauschstudenten einen Tutor zur Seite gestellt, an den sich der Schützling in allen Studienangelegenheiten wenden konnte. Eine ausführliche Dokumentation zu der beeindruckenden Fülle an Lehrveranstaltungen wurde gleich zu Anfang des Studienjahres mitgeliefert, so daß die Auswahl überhaupt nur mit Hilfe des Tutors zu bewältigen war. Dokumentationen erhält man als ENSAE-Student sowieso in großen Mengen, und zwar mittels eines Briefkastens, genannt "casier".

Vom Vorlesungsangebot sind wir nur in der Lage, den Teil zu beurteilen, den wir besucht haben, nämlich den Bereich Statistik und Ökonometrie. Im allgemeinen ist die Qualität der Lehre sehr hoch, denn als Dozenten werden führende Spezialisten auf den entsprechenden Gebieten ausgewählt. Lehrmaterialien (sogenannte "polycopiés") werden zu den meisten Vorlesungen verteilt, und die empfohlene Literatur ist in der gut ausgestatteten Bibliothek auch vorhanden. Außerdem haben viele Dozenten der ENSAE ihre Werke im Verlag ECONOMICA veröffentlicht, und diese sind für Studenten der ENSAE verbilligt zu haben. In besonders guter Erinnerung sind uns die Vorlesungen "Séries temporelles linéaires", "Compléments d'économétrie linéaire", "Statistique bayesienne", "Statistique robuste", "Statistique des processus en temps continu", "Statistique non- et semiparamétrique" und "Fondements statistiques de l'économétrie" geblieben, die sich zum Beispiel durch eine Kombination von praktischer Problembezogenheit und mathematisch korrekter Formulierung, und zusätzlich durch ein gutes pädagogisches Konzept auszeichneten.

Wir müssen sagen, daß die Prüfungen an der ENSAE in der Regel recht schwierig sind. Einerseits hauptsächlich wegen der Beschränkung auf zwei Zeitstunden. Andererseits ist zumindest ein Teil der Aufgaben auch mathematisch sehr anspruchsvoll. Sollten die Ergebnisse jedoch einmal insgesamt unterdurchschnittlich schlecht ausfallen (wegen zu hoher Anforderungen), setzt die "Synkronisierungskommission" die Noten auch schon mal um ein paar Punkte herauf.

Als Alternative zur herkömmlichen Prüfungen gehört zum Repertoire der ENSAE auch noch das Schreiben eines Mémoires, etwa einer Hausarbeit zu einem vorgegebenen Thema mit mehr oder weniger Bezug zur Vorlesung, die manchmal noch in einem Soutenance verteidigt werden muß. Wir haben damit recht gute Erfahrungen gemacht.

Um keinen falschen Eindruck entstehen zu lassen, die Anforderungen der ENSAE an ihre Studenten sind zwar tatsächlich sehr hoch, aber keinesfalls unerfüllbar. Mit ernsthafter Arbeit haben wir beide dieses Jahr erfolgreich abschließen können, und zwar ohne daß uns als Gasthörern oder Nichtfrancophonisten irgendwelche Erleichterungen gewährt wurden

Die ENSAE bietet neben dem obligatorischen Französisch-als-Fremdsprache-Kurs zusätzlich zahlreiche andere Fremdsprachenkurse an, die oft sehr interessant sind, denn dort werden nicht nur sprachliche sondern auch kulturelle Themen behandelt, die für etwas Erfrischung im mathematischen oder ökonomischen Tagesablauf sorgen. Unbedingt müssen wir auf den "Debatingkurs" hinweisen, wo nach dem Muster der Abgeordneten im britischen Parlament, die Rhetorik auf Kosten der Wahrheit verfeinert wird - eine echte Gaudi für alle Teilnehmer. Zu Beginn der Debatte gibt der Chairman die aktuelle Motion bekannt: ein neues Gesetz, von dem die Zukunft der Menschheit abhängen könnte. Beliebte Vorschläge waren unter anderem die sofortige Notschlachtung aller englischen Haustiere, der Umzug des Parlamentes in eine ländliche Gegend, "Might is Right" oder "The bigger the better" (ohne nähere Spezifizierung, was damit gemeint sein könnte). Zwei Parteien (die Regierungspartei und die Opposition) tragen sodann abwechselnd ihre Argumente für bzw. gegen die Motion vor, wobei der Phantasie nur durch persönliche Scham Grenzen gesetzt sein könnten (dieser Fall ist aber im letzten Jahr nicht eingetreten). Die Entscheidung fällt am Ende in einer Abstimmung das Publikums, das jedoch auch während der Debatte nicht unbedingt zu vornehmer Zurückhaltung angehalten ist. Den Höhepunkt eines Debating-Jahres bildet der Wettkampf zwischen den 4 renommiertesten Grandes Ecoles Frankreichs (Ecole Polytechnique, ENA, Science Po und ENSAE), den im letzten Jahr die ENSAE mit Hilfe eines HU-Austauschstudenten (!) gewonnen hat. Das Finale wird übrigens seit einigen Jahren in der Assemblée Nationale (französische Nationalversammlung) ausgetragen.

Ein Highlight, das unseren Alltag an der ENSAE ganz enorm aufzuhellen vermochte, war der Besuch der dortigen Mensa. Eine ideale Institution, um Gäste von der unendlichen Überlegenheit der französischen Küche zu überzeugen.

Noch eine Warnung möchten wir unseren Nachfolgern mit auf den Weg geben: Das Wohnungsangebot in Paris ist verglichen mit Berliner Verhältnissen, die auch nicht gerade rosig sind, noch wesentlich knapper und vor allem teurer. Deshalb ist es angebracht, sich auf einer sommerlichen Stipvisite in Paris schon mal etwas umzutun, zum Beispiel am CROUS (RER B, Station Port Royal) die Anzeigen zu lesen und ein paar Anrufe zu tätigen. Paris ist um diese Zeit noch nicht so von Studenten überschwemmt, und es lassen sich vielleicht einige gute Angebote finden. Untermieten ist in Frankreich übrigens illegal, was zwar nicht die sofortige Abschiebung zur Folge hat, aber den Ausschluß aus der Allocation familiale (dem Wohngeld ähnlich).

Wir hoffen, Euch mit unserem Bericht ein wenig Lust und Mut gemacht zu haben, dieses Angebot der internationalen Kooperation zwischen zwei hervorragenden Bildungseinrichtungen zu nutzen. Für weitere Informationen stehen wir unter den Adressen dalelane@mathematik.hu-berlin.de und andres@mathematik.hu-berlin.de gern zur Verfügung.


Andrés und Clementine