Bericht von Bianca Brandenburg, 1998
Schüler und Organisation der Lehre:
Die Erstsemester der ENSAE haben meist gerade die classes
préparatoires vorzugsweise mit dem Schwerpunkt Mathematik oder
Ökonomie hinter sich und sind im Schnitt 20 Jahre alt wenn sie in die
ENSAE eintreten. Einige wenige sind
älter und haben dann bereits ein abgeschlossenes Hochschulstudium oder
zumindest den Abschluss einer Handelsschule hinter sich. Seit kurzem
bietet auch das Doppeldiplomprogramm im Austausch mit dem Lehrstuhl für
Statistik und Ökonometrie der HUB auch Berliner Studenten/innen die
Möglichkeit, zwei Jahre an der ENSAE zu studieren.
Mit dem Ziel, die Schüler vor dem Eintritt in das zweite Jahr auf
einen einheitlichen Kenntnisstand zu bringen, werden die Schüler je
nach Vorbildung in die Klassen Mathematik und Ökonomie eingeteilt.
Durch entsprechend gestaltete Stundenpläne lernen so die Mathematiker
Ökonomie und die Ökonomen Mathe.
Obwohl der zeitliche Aufwand für die ENSAE schon als recht hoch eingestuft
wird, gab es zumindest in unserer Klasse (Ökonomie für die
Humboldtianer) eine Reihe von Studenten/innen, die nebenbei noch eine
Ausbildung an einer sozialwissenschaftlichen oder philosophischen
Fakultät absolvierten. Zudem gibt es die Beamtenanwärter/innen, denen
die Ausbildung teilweise staatlich finanziert wird und die sich mit der
simultanen Ausbildung an der ENSAE und an einer Verwaltungsschule
auf den Staatsdienst vorbereiten.
Generell gibt es wenig Ausländer an der Schule. So waren wir zwei
Berliner und ein Chilene die einzigen Ausländer im ersten Jahr. Im
zweiten Jahr existiert ein weiteres Austauschprogramm mit der Uni Bonn,
in dessen Rahmen zwei Bonner Studentinnen eingeschrieben waren. Etwas
höher liegt der Anteil im dritten Jahr und insbesondere in den
Doktorandenseminaren.
Um eine schnelle Integration
voranzutreiben, soll der Einstieg den Neulingen so leicht wie möglich
gemacht werden. So wird man bereits am ersten Tag mit Ensaetäschchen in
A4-Grösse ausgestattet, eine übrigens sehr beliebte französische
Marotte, Klienten/innen oder Mitarbeiter/innen bestimmter Institutionen
mit den passenden Taschen zu versorgen. Diese ist mit den ersten
Skripten, Sprach-, Sport- und Gebäudeführer sowie einem Casierschlüssel
und Chipkarte für die Mensa gefüllt. Bei den Casiers handelt es sich um
den persönlichen Briefkasten an der Uni, in denen man üblicherweise die
Übungsaufgaben, Strippte, korrigierte Klausuren und Verwaltungspost
findet. Die Mensa der Uni ist ausgesprochen lecker und preiswert, was
auch in der vorlesungsfreien Zeit zu regem Zulauf führt. Zudem gibt es
ca. 60 EDV-Arbeitsplätze mit Drucker und Internetanschluss und bei
Eintritt in die Uni erhält man neben der Immatrikulationsnummer auch
automatisch eine e-mail-Adresse.
Bereits in der ersten Woche gibt es die erste Uniparty mit
Freigetränken, Sandwiches und einer meist sehr ausgelassenen Stimmung
und am dritten Wochenende findet das Weekend d'intégration statt, eine
kleine Reise, bei der man Hemmungen zurückschrauben sollte, um alle
Spiele heil zu überstehen.
Im Unterichtssystem wird deutlich, dass
es sich tatsächlich um eine Schule handelt, da der Ablauf der Lehre
zumindest im ersten Jahr wenig Spielraum lässt. Der Stundenplan wird
für die jeweiligen Lerngruppen Mathematik und Ökonomie, die einen Teil
der Veranstaltungen aber auch zusammen hören, vom Lehrkörper
ausgearbeitet und jeweils eine Woche im Voraus ausgehangen. Den
Schülern wird lediglich im Wahlpflichtfach zweite Fremdsprache und im
Wahlfach Sport die Auswahl überlassen.
So setzte sich unser Stundenplan in den ersten Wochen fast
ausschliesslich aus den mathematischen Fächern (Analysis, Algebra,
Integralrechnung) und den Informatikkursen zusammen. Später folgten
dann Wahrscheinlichkeitsrechnung, Mikro- und Makroökonomie sowie
Konvexität und Optimierung. Die Mathekurse zeichnen sich durch einen
sehr hohen Formalisierungsgrad aus, der mit bis zu 6 wöchentlichen
Mathekursen bereits in den Vorbereitungsschulen auch im Fach Ökonomie
stark forciert wurde. Die Inhalte der ökonomischen Fächer decken sich
im grossen und ganzen mit denen des Berliner Grundstudiums, allerdings
wird in den Übungen und insbesondere in der Makroökomie mehr Wert auf
die Berechnung ökonomischer Effekte gelegt.
In den Übungen (Travaux dirigée) werden zu Hause bearbeitete
Übungsblätter von den Studenten/innen an der Tafel vorgetragen und dann
gemeinsam ausgewertet. Die Mitarbeit in diesen Übungsstunden wird
bewertet und geht mit in die Note für das Fach ein. Allerdings kann man
sich diese Arbeit auch etwas erleichtern, da höhere Jahrgänge oft
ähnliche Aufgaben zu bearbeiten hatten.
Der Stundenplan wird jährlich von einer Studienkommission
überarbeitet, um die Erfahrungen aus vergangenen Jahre und die
jeweilige Struktur der Studierenden berücksichtigen zu können.
Das Benotungssystem:
Um in das folgende Schuljahr übernommen
zu werden muss ein Notendurchschnitt, der bei 12 von 20 Punkten liegt,
erreicht werden. Dieser wird sowohl von der im Fach erzielten Note
(Klausur), als auch vom Gewichtungsfaktor des Faches bestimmt, der in
den quantitativen Fächern ( Analysis, Algebra und
Wahrscheinlichkeitsrechnung bei ca. 15 bis 17 und bei anderen von 3 bis
10 reicht.
Die Travaux dirigée gehen üblicherweise mit dem Faktor 3 in die
Durchschnittsnote ein.
Zudem wird auch die projektbezogene Teamarbeit belohnt. So setzt sich
die Note des Informatikkurses C aus der Anwesenheit und Motivation bei
den Kursen und einer Projektarbeit zusammen. Dabei wählt man unter 15
Aufgabenstellungen (z. B. Wartezeitenoptimierung, Matrizenoperationen,
Tetris, lineare Regression) eine aus und sucht sodann einen
Teamkollegen, mit dem man dann das Programm schreibt. Zum Abgabetermin
nach ca. 6 Wochen sollte eine funktionierende Computerversion des
Programmes und eine Projektbeschreibung, die die Herangehensweise, die
praktische Umsetzung und die Konsequenzen der Arbeit aufzeigen soll,
beim verantwortlichen Tutor vorliegen. Die Arbeiten werden sodann vom
Fachbereich Informatik besprochen und nach ca. 14 Tagen stellt sich
jedes Team noch einmal einer zweiköpfigen Jury aus dem
ausserschulischen Bereich vor.
ähnlich geht man im Bereich Statistik vor. Hier gibt es zwei
Vorlesungsreihen im Bereich der beschreibenden und der
multidimensionalen Statistik, zu denen es Übungen gibt, in denen
Umfragen des INSEE mit dem
entsprechenden SAS Programm und seinem Output besprochen und
ausgewertet werden.Im Anschluss erfolgt eine 2 monatige Projektarbeit
in Dreiergruppen, in denen die Daten von 9000 Haushalten zu
unterschiedlichen Fragen (Konsum- und Freizeitverhalten, Sozialer
Status, Einkommen u.s.w.) unter verschiedenen Gesichtspunkten und mit
Hilfe der Software SAS ausgewertet werden. Auch hier gehören die
Projektbeschreibung inclusive kritischer Reflexion und die Präsentation
zu einer guten Arbeit.
Praktische Erfahrungen werden auch im ausserschulischen Bereich
unterstützt. Nach dem ersten und zweiten Schuljahr wird ein 4-wöchiges
beziehungsweise dreimonatiges Praktikum in einem Unternehmen oder einer
Verwaltung angestrebt. Dazu gibt es eigens ein Praktikantenbüro an der
Schule, in dem sich zwei Mitarbeiter/innen hauptamtlich um die Kontakte
zu den Unternehmen und die Betreuung der Praktikanten/innen kümmern.
Dies und die Reputation der Schule sorgen dafür, dass die Casiers mit
Pratikumsangeboten, die sich konkret an die Fähigkeiten der beiden
Jahrgäängen richten, gut gefüllt sind. Im Anschluss an das Praktikum
wird ein Bericht geschrieben und ebenfalls vor einer Jury vorgetragen.
Bei Nichtdurchführung eines Praktikums kann der Notendurchschnitt des
folgenden Jahres um bis zu 0,5 Prozentpunkte herabgesetzt werden.
Erhöhen kann man seinen Durchschnitt zum Beispiel durch die im Sport
erzielte Note, welche noch einmal nach dem Kriterium Mannschafts- oder
Individualsportart gewichtet wird. Die Wahl einer Mannschaftssportart
und die regelmässigen Teilnahme an Wettkämpfen kann bis zu 0,5
Prozentpunkte einbringen.
Ausserdem wird das Engagement im BDE dem Studentenklub der ENSAE belohnt. Dabei geht hauptsächlich
um die Organisation der Bar, diverser Partys und der vielen, vielen
Reisen, deren Ziele die Studierenden selbst wählen und die dann von der
Schule mit finanziert werden.
Ein anderes Betätigungsfeld ist die Mitarbeit im Forum, dessen Ziel es
ist, Unternehmen für die jährlich stattfindende Praktikumsbörse zu
gewinnen. Diese sollte man sich auf keinen Fall entgehen lassen, da es
neben vielen interessanten Kontaktmöglichkeiten auch sehr lustig ist,
die Uni mit schlipstragenden Studenten gefüllt zu sehen.
Leben in Paris:
In der Weltstadt Paris gibt insbesondere
im kulturellen Bereich eine Unmenge interessanter Dinge zu entdecken,
was in den Museen, Theatern und Konzerten mit den
Studenten/innenermässigungen auch für den kleinen Geldbeutel möglich
ist. Ein ausführlicher Veranstaltungsführer ist mit dem Pariscope für 3
FF an jedem Zeitungskiosk erhältlich. Teuer werden dagegen die so
berühmten Pariser Cafébesuche. Davon gibt es sicher Tausende in der
Stadt, für meinen Geschmack aber oftmals ein bisschen zu "schick". Wer
es lieber etwas alternativer mag, dem sei zum Beispiel die Rue
Oberkampf, das Flèche Door Café aber auch das Maraisviertel empfohlen.
Ausgesprochen teuer ist auch der Pariser Wohnraum, da für 30 qm-
Wohnungen mit unterem Standard schon 1000 Mark Miete berappt werden
müssen. Allerdings gibt es für Studenten einen Mietzuschuss, der bis zu
dreihundert Mark betragen kann und relativ unkompliziert von der
Allocation familiale gewährt wird. Allgemein kann ich der Pariser
Verwaltung ein grosses Lob aussprechen, da ich alle Ämtergänge
wie die Aufenthaltsgenehmigung und das Wohngeld, wohl auch dank des
Privilegs, EU- Bürgerin zu sein, schnell und zügig hinter mich bringen
konnte. Ein guter Führer durch den Ämterdschungel mit Adressen
und nötigen Papieren ist im Institut von Professor Härdle
erhältlich.
Zum Wohnen konnte ich glücklicherweise einen der heiss begehrten und
weniger teuren Plätze in der Cité Universitaire ergattern. Das
idyllische Studentendorf, als kleine Oase direkt zwischen dem
Périphérique (Stadtautobahn) und Boulevard Jourdan (Umgehungsstrasse)
gelegen und mit dem PC nur 10 min von der ENSAE entfernt, besteht schon seit über
100 Jahren und hat das Flair einer riesigen Campusuni. Über 20 Nationen
sind hier mit ihren Häusern vertreten, von denen die meisten kleine
architektonische Meisterwerke sind. Die Bewohner/innen setzen sich zu
50 Prozent aus Studenten/innen der jeweiligen Länder und zu 50 % aus
Studenten/innen anderer Nationalitäten zusammen. Ich habe im 70er
Jahre- Neubau des Maison du Mexique mein Zimmer bezogen und konnte hier
meine Tequillafestigkeit und sehr spärlichen Spanischkenntnisse
prüfen.
Die Häuser haben ein grosses Veranstaltungsrepertoire, das dem
monatlich erscheinenden Citéscope zu entnehmen ist, und die
wochenendlichen Partys sind auch ein grosser Magnet für die Pariser
ausserhalb der Cité. Dazu ist es nützlich in jedem der Häuser einige
Kontakte zu unterhalten, da man sonst aufgrund des grossen Andrangs oft
vor verschlossenen Türen steht. Zudem gibt es im Hauptgebäude eine
grosse Mensa, eine Bibliothek und mit der Schwimmhalle, diversen
Gymnastikräumen und zwei Tennisplätzen bieten sich auch eine Menge
Möglichkeiten zum sportlichen Ausgleich. Zu Beginn des Studienjahres im
Oktober erscheint ein Angebotsheft mit den nötigen
Anmeldeformalitäten.
Für Deutsche erfolgt die Bewerbung für die Cité generell über das
Heinrich Heine Haus, welches dann die Verteilung auf die einzelnen
Häuser vornimmt, man kann aber seinen Präferenzen für ein bestimmtes
Haus in der Bewerbung Ausdruck verleihen.
Resümee:
Die ENSAE bietet aufgrund der sehr guten
Ausstattung und kleinen Lerngruppen optimale Studienbedingungen.
Man sollte sich aber der Tatsache bewusst sein, dass hier in erster
Linie Wirtschaftswissenschaftler/innen mit überdurchschnittlichen
quantitativen Fähigkeiten ausgebildet werden. Die starke Gewichtung
statistischer und wahrscheinlichkeitstheoretischer Fächer zieht sich
durch das gesamte Studium und bestimmt auch massgeblich die beruflichen
Perspektiven der Studenten/innen.
Insgesamt hat das Jahr in Paris eine ganze Menge spannender und
schöner Erlebnisse und Erfahrungen mit sich gebracht und das
integrierte Studienprogramm kann insbesondere Leuten mit einem
mathematischen Gespür wärmstens empfohlen werden.
Zudem hat man auch erst vor Ort die wahre Chance, die Sprache und die
Kultur eines Landes kennenzulernen.
Erfahrungsbericht von Bianca Brandenburg