Humboldt-Universität zu Berlin - Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät

Bericht von Andrea Tiersch, 1998

Ecole Nationale de la Statistique et de l'Administration Economique - ein Jahr in Paris


Ganz im Süden von Paris unweit der Stadtautobahn (Boulevard périphérique) verbirgt sich hinter einer unscheinbaren Fassade die Ecole Nationale de la Statistique et de l'Admini-stration Economique. Studenten der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität haben hier die einmalige Gelegenheit, das Studium an einer Grande Ecole mit dem Kennenlernen der Metropole Paris zu verbinden. Als attraktive Alternative zu den französischen Universitäten hat sich in Frankreich das System der Grandes Ecoles heraus-gebildet mit einer Vielzahl von Vorzügen aber auch besonderen Ansprüchen.

Ich selbst habe an einem einjährigen Austauschprogramm zwischen der ENSAE und der HUB teilgenommen. Das bedeutete in diesem Fall den Einstieg ins zweite Studienjahr der ENSAE. Zu diesem Zeitpunkt setzt sich die Studentenschaft aus Personen zusammen, die unterschiedlichste Bildungswege gegangen sind. Einerseits sind die ENSAE-Schüler anzutreffen, die nach dem Abitur sogenannte Classes Préparatoires absolvierten, in denen sie einen dem Vordiplom vergleichbaren Abschluß erreichten. Dieser stellt eine Zugangsvoraussetzung für die Aufnahme in eine Grande Ecole dar. Anschließend absolvierten sie das erste akademische Jahr an der ENSAE, wo sie eine intensive Ausbildung in Methoden der Mathematik und Vorgehensweisen der Ökonomie erhielten. Ferner treten ins zweite Jahr auch Studenten exzellenter Schulen mit vergleichbarer Qualifikation, wie aus der Ecole Normale Supérieure und der Ecole Polytechnique, aber auch Absolventen der Mathematik aus Universitäten nach bestandener Aufnahmeprüfung ein. Festzustellen ist ein ausgesprochen hohes Niveau an mathematischen Fertigkeiten bei allen Kommilitonen. Daher ist für extern Eintretende des zweiten Studienjahres die Teilnahme an den im September stattfindenden Vorbereitungskursen von großer Bedeutung. Eine besondere Chance ist sicher das Doppeldiplom mit dem Beginn im ersten Jahr ENSAE und damit fundierter Lehre in quantitativen Verfahren.

Inhalt des Studiums ist einerseits volkswirtschaftliche Ökonomie. Hier wird ähnlich wie in deutschen Fakultäten vorgegangen. Andererseits liegt ein Schwerpunkt in Statistik und Ökonometrie. Erforderlich sind in diesem Gebiet Fähigkeiten zur Beweisführung und zum selbständigen Entwickeln von Modellen. Wichtig sind ferner Informatik und die englische Sprache. Die ENSAE selbst bietet für ausländische Studierende wöchentlich zwei Stunden französischen Sprachunterricht an. Sinnvoll ist darüber hinaus sicher die Teilnahme an einem der hervorragenden Sprachkurse (kostenpflichtig) der Universität Sorbonne. In inter-nationaler Gesellschaft können hier Zertifikate und Diplome erworben und Kontakte geknüpft werden.

Was unterscheidet die Studienorganisation der ENSAE von der deutscher Universitäten? Jedem ausländischen Studenten wird ein Tutor zur Seite gestellt. Er berät beim Aufbau des Studiums und beantwortet auch fachliche Fragen. So ist das Zurechtfinden im zweigeteilten Unterrichtssystem (Vorlesungen und Travaux Dirigés) um einiges leichter. Anzumerken ist, daß die Travaux Dirigés, die der deutschen "Übung" entsprechen, eine aktive und regelmäßige Teilnahme erfordern. Nicht zuletzt kann damit das Examensergebnis in Punkten verbessert werden. Innerhalb des Jahres sind auch Seminararbeiten (mémoires) anzufertigen, für die in Gruppen gearbeitet wird. Die Ausstattung mit Literatur der Bibliothek der ENSAE ist umfangreich. Durch das persönliche Engagement der Bibliotheksmitarbeiter können teilweise auch Bestände anderer Bibliotheken genutzt werden. Skripte zu Vorlesungen und Übungen erhält der Student über seinen in der ENSAE stationierten, höchst persönlichen Briefkasten. Problemlos ist auch die Nutzung eines der zahlreichen Computer. Aktiv greift die ENSAE-Administration in das Organisieren von Foren ein. Durch die Pflege von Kontakten zum Finanzsektor, zu Unternehmen und Ministerien wird die Suche nach einem Praktikum oder sogar einem späteren Arbeitsplatz erheblich unterstützt.

Ein ENSAE-Student kann auch endlich die Anonymität einer Massenuniversität hinter sich lassen. Er bewegt sich unter einer überschaubaren Schülerzahl von etwas mehr als 300 Studenten. An der ENSAE kennt man sich. Zu Beginn eines Studienjahres findet ein "Wochenende der Integration" für die Neuankömmlinge statt. Abgesehen davon, daß es eine Gelegenheit bietet, landschaftlich reizvolle Gegenden Frankreichs (zum Beispiel die Atlantikküste) kennenzulernen, bekommt man auch einen Einblick in französische "Jugendkultur". Bei mehr oder weniger gefährlichen Aktivitäten sind erste Kontakte mit französischem Temperament und Humor möglich. Mit diesem Wochenende ist eine Integration in die soziale Gemeinschaft der ENSAE-Studenten relativ einfach, so daß man sich schnell in einer so großen Stadt wie Paris beheimatet fühlen kann.

Zahllos sind im weiteren die von den Studenten des Bureau des Elèves (aktive Studentenvertretung) organisierten Veranstaltungen. Ob Skireise in die französischen Alpen, Frühjahrsfahrt in eine europäische Großstadt (zum Beispiel Florenz), Galaabend, Kinonacht, Debating im Wettstreit mit anderen Schulen um englische Sprachkultur oder Sportwettbewerbe - das ganze Jahr hindurch wird viel Abwechslung geboten.

Nicht der letzte ihrer Vorzüge ist die Lage der ENSAE. Paris! Paris allein macht es möglich, Wochenenden mit einem vielseitigen, anspruchsvollen Programm auszufüllen. So kann man im Nordosten im Parc des Buttes Chaumont die Wipfel einer "Miniatur-Sächsischen Schweiz" erklimmen, hoheitsvoll auf den gepflegten Wegen des Jardin du Luxembourg promenieren, im Osten der Stadt nach prominenten Gräbern auf dem Cimetière de Père Lachaise suchen, lange Spaziergänge in den Weiten des Bois de Boulogne machen oder die Wasserfestspiele in Versailles bestaunen. Endlos ist die Zahl der Museen voller Meisterwerke: Louvre, Orangerie, Musée d'Orsay, Musée Marmottan, Musée Rodin, .... Jeder Stadtteil hat seine Eigenheiten: vergnügliches und arabisches Treiben im Norden, revolutionäre Spuren im Osten, historische und architektonische Sehenswürdigkeiten in der Mitte, Künstlertum und Intellektualität im Süden, Reichtum und Establishment im Westen.

Der Aufenthalt an der ENSAE in Paris war damit für mich die Chance, neben einem anspruchsvollen Lehrprogramm eine wunderbare Stadt kennenzulernen und zumindest ein gewisses Gespür für französische Lebenskultur und Denkweise zu bekommen. Reizvoll an einem Doppeldiplomprogramm hingegen erscheint mir im besonderen, damit eine reale Chance für einen Einstieg in den französischen Arbeitsmarkt zu erhalten. Für verantwortungsvolle Positionen in französischen Unternehmen und vor allem in der französischen Verwaltung ist oft das Diplom einer Grande Ecole Voraussetzung.


Andrea Tiersch
Studentin der Betriebswirtschaftslehre